Was die Menschheit seit Jahrtausenden wahrnimmt
Uralte Traditionen von quer über den Globus lebenden indigenen Stämmen zeugen von einer solchen Anbindung. In der peruanischen Inkastadt Machu Picchu beispielsweise steht ein Bauwerk, eine Art Kalender, das exakt nach den Konstellationen und ihren Bewegungen am Firmament ausgerichtet ist. Aus dem 15. Jahrhundert. Mit einer solchen Präzision, die der modernen Technologie in nichts nachsteht. Die Beobachtung der Natur, ihrer Phänomene und mystischen Erscheinungsformen gibt unserer Spezies seit Menschengedenken Anhaltspunkte und Möglichkeiten, aus dem sinnlich Wahrnehmbaren einen tieferen Sinn zu ziehen. In unzähligen spirituellen Traditionen und mystischen Weisheitslehren sucht der Mensch nach Antworten auf die große Frage nach dem Einen. Nein, wir werden sie auch in diesem Artikel nicht restlos klären können – aber erkunden, wie wir unsere Wahrnehmung dafür schärfen und in unserem Alltag mit dem Göttlichen in bewussten Kontakt treten können.
Alle großen spirituellen Lehren erzählen uns von der Innenschau als wesentliche Praxis, um das Selbst als Manifestation von Bewusstsein zu erkunden und damit eine tiefe Verbundenheit mit der Schöpfung und dem Kosmos zu erfahren. Schon in der Frühzeit, als wir noch jagten und sammelten, stellten Schamanen die Verbindung zwischen der materiellen und der spirituellen Wirklichkeit her. Viele Archäologen sind davon überzeugt, dass unsere frühesten Vorfahren bereits meditative Zustände gekannt haben.
Im Zen – einer späteren Strömung des Theravada-Buddhismus, die sich zunächst in China und dann in Japan fortgesetzt und etabliert hat – versuchen die Mönche, ihren Geist von allen irdischen Zielen, von jeglicher Absicht und jeglicher Anspannung zu lösen und sich voll auf ihre natürliche Intuition zu fokussieren. Und im achtgliedrigen Pfad des Yoga nach Patanjali erfährt der Praktizierende Samadhi – die tiefe Verbundenheit mit dem All-Einen – durch die hingebungsvolle Praxis innerer Sammlung, ethischer Grundprinzipien, körperlicher Übungen, der Kontrolle des Atems und meditativer Versenkung. Auch Jesus soll sich regelmäßig in der Innenschau geübt haben. Von Meditation liest man nur deshalb kaum etwas in der Bibel, weil die Kirche als Vermittler zwischen Mensch und Gott kein großes Interesse daran hat, dass der Mensch die göttliche Erfahrung in sich selbst macht.
Wie außen, so innen
Es liegt also die Vermutung nahe, dass die Erfahrung des Göttlichen sowohl da draußen am Sternenhimmel als auch in uns selbst möglich ist. Man muss keiner Religion angehören und keinem Dogma folgen, um diese Verbundenheit mit dem großen Geist, der kosmischen Intelligenz, tiefer und tiefer in sich selbst zu erfahren. Im Gegenteil, je offener und undogmatischer wir uns der Innenschau annähern, je freier unsere meditative Praxis von Erwartungen ist, umso mehr werden wir von jener Essenz entdecken, auf die alle Religionen und spirituellen Lehren hinzudeuten suchen. Die treibende Kraft hinter den forschenden Bestrebungen ist die Neugierde, zu erfahren: Wer oder was bin ich wirklich?
Siddharta Gautama, der später zum Buddha wurde und den Buddhismus begründete, hat bereits 500 vor Christus erkannt, dass der Weg zur Erleuchtung – zur Freiheit von allem Leid – nicht darin besteht, den Schmerz aus dem Leben zu verbannen, sondern ihn als Teil des Lebens zu akzeptieren und seine Identifikation mit ihm zu lösen. Wie das gelingen kann? Indem wir uns darin üben, die Bewertungen des Verstandes nicht ständig für bare Münze zu nehmen. Natürlich, eine seiner Aufgaben ist es, unser Überleben zu sichern, Gefahren einzuschätzen und uns ein möglichst komfortables und sicheres Leben zu ermöglichen. Deshalb bewertet der denkende Verstand ständig in gut und schlecht, in gefährlich und sicher, in schön und hässlich, in angenehm und unangenehm. Die Bewertung ist nicht das Problem, unsere Identifikation mit der Bewertung schon. Genau darin liegt die Ursache von Leid. Wenn wir in der Beschreibung noch einen Schritt weiter gehen wollen: nicht die Empfindung an sich tut weh, sondern unsere Bewertung der Empfindung als Schmerz und die Identifikation damit. Wenn du Traurigkeit in dir wahrnimmst, fühlst du dich dann traurig oder bist du traurig? Wenn du dich ärgerst, fühlst du dich verärgert oder bist du verärgert?